Auch bei Flügeln gibt es seit vielen Jahrzehnten Bestrebungen, mit dem Raumbedarf zu geizen und dennoch mit dem Klang zu klotzen. Hier berichte ich von einem Ibach-Flügel, kurz vor dem ersten Weltkrieg gebaut, also schon deutlich über 100 Jahre alt. Er ist etwa 155 cm kurz und schafft dennoch eine Sonorität im Bassklang, die respektvolles Staunen gebietet.
Um dies zu ermöglichen, wurde bei Ibach eine besondere Ingenieursleistung vollbracht: Im Bassbereich wurden die Tiefbass-Saiten noch einmal über die höhertönigen Bassaiten hinweg gekreuzt, was ihnen etwas mehr schwingende Länge ermöglicht. Der Flügel ist also ein „Doppelkreuzsaiter“. Um dies zu verwirklichen, wurde der Basssteg eigenständig und ungewöhnlich konstruiert. Die gesamte Bassbesaitung läuft dort nicht direkt durch Stegnägel, sondern durch offenbar eigens entwickelte metallene Umlenk-Einheiten, in denen die Saiten doppelt verschränkt und sicher gehalten werden. Für die Tiefbass-Saiten wurden diese Metall-Elemente gestielt und mit einer stabilisierenden Brücke gruppiert.
Verwirrend? Sehen Sie sich die Bilder an. Manches ist beim Ansehen viel leichter zu verstehen, als es mit Worten zu erfassen ist.
Die Konstruktion ist ziemlich gewagt. Über die Spannungs- und Druckverhältnisse muss man sich damals bei Ibach schon sehr genau Gedanken gemacht haben – und dies durchaus mit Erfolg, denn dieser Flügel wurde offensichtlich zu serienreifer Zuverlässigkeit gebracht. Es existieren auch heute noch genügend Exemplare, so dass mir dieses Flügelmodell im Laufe vieler Jahre mehrfach begegnete.
Schauen Sie sich die raffinierte Konstruktion dieses Bassstegs mit Doppelfunktion gut an – es sind im Web nicht so leicht Bilder davon zu finden. Zwar werden Sie durchaus Abbildungen von Ibach-Doppelkreuzsaitern finden – aber eher von dem etwas später, kurz vor 1920 gebauten Modell. Dieses ist bereits 160 cm lang und hat für die überkreuzten Tiefbasssaiten einen gesonderten Steg. Technisch ist das etwas einfacher; Vergleichbares gab es allerdings auch von anderen Herstellern.
Noch später, in den 1920er Jahren, hat Ibach dann einen Flügel gebaut, der dem 155-cm-Winzling mühelos das Wasser reichen kann. Er hat einen normalen Basssaitenverlauf ohne Zusatzkreuzung und Spezialelemente. Und er benötigt dafür auch nur 160 cm.
Unten nun noch ein Bild vom 160-cm-Nachfolgemodell aus den 1920er Jahren. Im aufgehellten Bereich ist mit etwas Mühe die normale Führung der Bassbesaitung zu erkennen. (Von meinem nächsten Besuch bei diesem Exemplar – voraussichtlich Ende Juni 2016 – werde ich ein aussagekräftigeres Foto mitbringen.)